Von einer Bananenrepublik ohne Bananen und mit viel Erdöl

Venezuela

Montag, 15. Juni 2009

Mission failed: Robinson

Beim Stöbern in der deutschsprachigen Wikipedia stolperte ich zufällig über den Artikel "Bolivarianische Missionen". Die Beschreibung der Missionen, besonders ihrer vermeintlichen Erfolge, entspricht dem recht einseitigen Bild, das das politische Projekt Hugo Chávez' im deutschsprachigen Raum geniesst. Besieht man sich die angeführten Quellen, verwundert diese unkritische Beurteilung weniger: Angaben der venezolanischen Regierung, Dario Azzellini, eher ein Apologet der bolivarianischen Revolution und das als völlig unkritsch (weil ideologisch sehr nahestehend) anzusehende amerika21.de.
Der Verweis auf diese Quellen wäre nicht problematisch, wenn sie geeignet wären, nicht nur eine rein politisch motivierte Auskunft zu geben, sondern die beanspruchten Erfolge mit objektiven Beweisen zu belegen. Diese fehlen.

Im Abschnitt "Erfolge" besagten Artikels steht bezüglich der Misión Robinson (Alphabetisierung) der Satz:
"Den sichtbarsten Erfolg konnte wohl die Misión Robinson erreichen: Die Analphabetenquote wurde in wenigen Jahren von 6,12 auf 1 % gesenkt."
Im darauf folgenden Satz steht auch, dass dies nicht von der UNESCO bestätigt wurde. Dennoch erscheint die Übernahme dieser regierungsamtlichen Erfolgsmeldung aufgrund ihrer Haltlosigkeit einer Enzyklopädie nicht würdig. Wie miserabel beispielweise die Wohnraum-Mission verläuft, habe ich in diesem Beitrag bereits gezeigt. Zwar wurden die zweifelhaften Erfolge der Misión Robinson schon in der Vergangenheit an anderen Stellen ausgiebig diskutiert, da man im deutschsprachigen Raum nach wie vor die offiziellen Angaben ohne Hinterfragung hinnimmt, sei der Fall hier noch einmal kurz aufgerollt. So folgt z. B. Sahra Wagenknecht (Die Linke) der oben zitierten Behauptung (Dank an Kepler für den Hinweis). Bei der Beurteilung des Sachverhalts beziehe ich mich auf die durch Ortega und Rodríguez (Wesleyan Univeristy) 2006 durchgeführte Studie.

Misión Robinson lief im Juli 2003 an und sollte die Analphabetenquote reduzieren. Hierzu wurden landesweit "Trainer" aus der Bevölkerung eingebunden, um den Eingeschriebenen, überwiegend Erwachsene, nach einem vorgegebenen Lehrplan inklusive Videolektionen in sieben Wochen Lesen und Schreiben beizubringen. Die Trainer erhielten dafür ca. US$ 100 monatlich aus der Staatskasse. Bereits vor Ende 2005 meldete die Regierung die Beseitigung des Analphabetentums in Venezuela dank Robinson.

Bereits bei Grundsätzlichkeiten der Mission fallen Inkonsistenzen auf. So geben verschiedene Regierungsstellen abweichende Zahlen über die Menge der einzubindenden Analphabeten. Sie schwanken zwischen 1,4 und 1,5 Mio. Bürger. Zu keiner Zeit wird ein Beleg für die Herleitung dieser Zahlen gezeigt. Zusätzlich geben offizielle Statistiken die Anzahl Analphabeten für 2001 mit lediglich knapp über 1 Million Bürger an.
Das Ministerium für Erziehung rechtfertigte diese Korrektur nach oben mit einer angeblichen Untersuchung, die diesbezüglich im Jahre 2003 durchgeführt wurde. Auch die Ergebnisse oder Verfahrensdokumentation dieser Prüfung sind nirgends einzusehen. Sogar die Anzahl der insgesamt zwischen 2003 und 2005 eingebundenen Trainer variiert je nachdem, wer die Auskunft gibt, zwischen ca. 110.000 und 210.000 Personen. Es ist schon aus diesen Gründen fraglich, wie glaubhaft der Erfolg der Mission sein kann, wenn die zugrundeliegenden Ausgangszahlen selbst offenbar nicht gesichert scheinen.

Die oben angeführte Studie von Ortega & Rodríguez untersucht mit soliden statistischen Methoden, wie groß der Einfluss der Misión Robinson auf die Veränderung der Analphabetenquote ist. Das Ergebnis: Der Einfluß der Reduktion von Analphabetismus durch die Mission ist statistisch (somit ökonomisch) insignifikant. Eine fortgeführte kleine Verringerung von Analphabetismus scheint eher einem langfristigen demographischen Trend zu gehorchen.
Weisbrot und Rosnik (2008) äusserten Vorbehalte gegen die Methodik der im Vorfeld der statistischen Analyse durchgeführten Haushaltsbefragungen durch Ortega und Rodríguez, die wiederum eine (aus meiner Sicht plausible und dominante) wissenschaftliche Antwort auslösten. Einblick in die Auseinandersetzung der Gelehrten hier und hier.

Eine Reduzierung der Analphabetenquote scheint grundsätzlich schlüssig, allerdings nicht auf das Niveau von 1%. Der Human Development Report 2007/2008 der Vereinten Nationen gibt Venezuelas Alphabetenquote mit 93% an und die Zahlen für die letzten Jahre laut CIA World Factbook sind identisch. Die Behauptung von venezolanischer Seite, die UNESCO habe 2005 die Beseitigung des Analphabetismus' in Venezuela anerkannt, wurde durch die UNESCO zurückgewiesen.
Im Gegenteil. Es gibt von Venezuela keine verlässlichen Zahlen zu der tatsächlichen Alphabetenquote und die zuständigen Ministerien verweigern jede Art von international anerkannten Bildungstest und Audits (vgl. PISA der OECD). Glaubt man den Berichten von der Funktionsweise der Misión Robinson, liegt ihre Ineffizienz möglicherweise im Konzept begründet: So herrschte eine hohe Fluktuation unter den Trainern (ca. 40%), da eine Trainerstelle oft nur angenommen wurde, um in einer Phase der Arbeitslosigkeit wenigstens von den US$ 100 monatlich zu profitieren (einige Trainer blieben einfach dem Unterricht fern). Es wird von zahlreichen Fällen berichtet, in denen der zuständige Trainer sich weniger mit der Vermittlung von Lese- und Schreibfähigkeiten befasste als vielmehr mit "politischer (sozialistisch-bolivarianischer) Erziehung" der ihm anvertrauten Lernwilligen.
Die größte methodische Schwäche aus meiner Sicht bleibt jedoch das völlige Fehlen jeglicher Evaluationsmöglichkeiten. Es gibt keine geeigneten Zwischen- oder Abschlussprüfungen, um den ausreichenden Erwerb der Lese-/Schreibfähigkeit festzustellen. Schon aus dem dadurch resultierenden Mangel der Messbarkeit werden die von offizieller Seite behaupteten Erfolge zur reinen Glaubenssache.
Da die venezolanische Regierung keine nachvollziehbaren Daten als Beleg ihrer Erfolgsmeldung liefert (liefern kann?), bleibt eine Beseitigung des Analphabetismus' nicht feststellbar. Einen entsprechenden Änderungsvorschlag habe ich in der Diskussionsseite des Wikipediabeitrages eingefügt.

1 Kommentar:

  1. Sehr gut recherchiert.
    Etwas anderes, was mir auffällt: wie Chavismo resolut jegliche Transparenz in der Ausbildung ablehnt.
    Guck mal hier:
    http://sites.google.com/site/venezueladesarrollada/government-feedback

    Auch ein Post von mir in Venezuela Europa (google Venezuela Europa maths PISA)

    Es wäre super, wenn Du in der Zukunft auch etwas über die Presse in Venezuela und den Diskurs sprechen könntest.
    Europäer haben oft einen falschen Eindruck, vor allem wenn sie im Hotel Globovision sehen, einen Sender, der ja nur per Kabel und sonst in Caracas gesehen werden kann.
    Stichwörter:
    Die Hassreden von Chavez (die man im Ausland nicht so kennt)
    Welche Medien können arme Venezolaner überhaupt zur Verfügung haben (vor allem ausserhalb Caracas)
    Die Abwesenheit eines offenen Debats

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