Von einer Bananenrepublik ohne Bananen und mit viel Erdöl

Venezuela

Dienstag, 28. Juli 2009

Revolution und Armut

Kürzlich veröffentlichte Studien über die Entwicklung der Armut in Venezuela seit der Machtübernahme durch Hugo Chávez und seine revolución können aufgrund ihrer Ergebnisse nicht unerwähnt bleiben - wenn auch für die Bedeutung des Themas unangemessen kurz.
Während die Daten über Armutsentwicklung seitens des Instituto Nacional de Estadística (INE) oft dazu verwendet werden, die Verbesserung der Lebensumstände der Venezolaner zu belegen, zeigen zusätzliche Untersuchungen ein weniger vorteilhaftes Bild. Neben der Antwort auf das "Ob" einer Armutsreduzierung ist auch die Frage nach dem "wie angemessen" wichtig, wenn man bedenkt, dass der Regierung im letzten Jahrzehnt astronomische Ölexporteinnahmen zur Verfügung standen und sie damit eine vermeintlich "armenfreundliche" Politik verfolgt.
Zur Verdeutlichung der verschiedenen Ergebnisse, habe ich Daten verschiedener Quellen grafisch dargestellt.



Laut INE ist die Armut zwischen 2000 und 2007 insgesamt von 48,3% auf 33,6% gesunken, davon die extreme Armut (Einkommen geringer als Nahrungsmittelkorb) von 19,5% auf 9,6%.
Abbildung 1 bietet eine Darstellung dieser Entwicklung. In den Fußnoten des INE wird erwähnt, dass die Armutsgrenze durch die Einführung der Misión Mercal (staatliche Lebensmittelläden) angepasst wurde. Wie genau und ab welchem Zeitpunkt dieser "Bruch" in der Statistik auftritt, wird nicht gesagt (zumindest habe ich keine Angaben zur Methodenänderung gefunden). Mercal wurde offiziell im April 2003 eingeführt und sollte die Armut der Bevölkerung durch den Verkauf von Lebensmitteln zu niedrigen, relativ fixen Preisen lindern. Aus einem Zeitungsartikel (den ich leider nicht wiederfinde) ging hervor, dass die Regierung davon ausgeht, mindestens 90% der Venezolaner hätten Zugang zu diesen staatlichen Läden (mehr zur Misión Mercal bei Gelegenheit an anderer Stelle). Der Präsident monierte in einer seiner sonntäglichen Shows die "alte, kapitalistische Art" der Armutsmessung. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Berücksichtigung von Mercal ab spätestens Anfang 2005 in die Statistik einfliesst und offenbar davon ausgeht, dass tatsächlich fast jeder Bürger Zugang zu Mercal hat (was fraglich bleibt).

Neueste Untersuchungen durch Luis Pedro Espana, Leiter des Projekts Armutsforschung an der Universidad Católica Andres Bello (UCAB) ziehen einen Vergleich zwischen der Situation der Armen in 1998 und 2008. Die Ergebnisse derselben legen nahe, dass in dem Zehnjahreszeitraum die Armut und besonders die extreme Armut weitaus weniger zurückgingen als die große Flut an Petrodollars in die Staatskassen, dank Ölpreishoch, vermuten lassen.
Abbildung 2 b zeigt die entsprechenden Veränderungen. In zehn Jahren (davon neun unter Präsident Chávez) ging die Armut insgesamt lediglich um ca. 8% zurück, während die extreme Armut gerade einmal um 3% schrumpfte - für nahezu eine Dekade von vielbeworbenen Initiativen und Erhöhungen sozialer Ausgaben kein gutes Ergebnis.
Die Studie betrachtet Segmente der Bevölkerung u. a. entsprechend ihres Einkommens, der Verfügbarkeit von Konsumgütern und Bildungsstand, wobei Haushalte des Segments E die Armsten darstellen, ein Einkommen unterhalb von 418 US$ (offizieller Wechselkurs!) besitzen, somit unterhalb des Werts des Lebensmittelkorbs und die meist nur Grundschulbildung geniessen. Die weiteren Segemente staffeln sich entsprechend der Kaufkraft des Haushalts gemessen in Lebensmittelkörben und weiteren Annehmlichkeiten, wie z. B. das Vorhandensein eines Automobils. Segment B besitzt ein Einkommen von mind. 5 Lebensmittelkörben monatlich.


Luis España kommt zu dem Schluss, dass die wirtschaftliche Expansion nach 2004 zwar deutliche Auswirkungen auf die Einkommen der Bevölkerung hatte, jedoch v. a. für jene, die in der Lage waren, an der "Erdölrente" zu partizipieren. Die grundlegende Verbesserung der Lebensumständer ärmerer Schichten hingegen, bleibt ein Mythos. Die Verbesserungen dank Öldollarzuflüssen sind nicht in dem Maße in die untersten Schichten durchgesickert, wie die Regierung so oft versichert. So beträgt der Anteil der staatlichen Transferleistungen zugunsten der Ärmsten (Segment E) nicht mehr als 27%.
Abbildung 2 a zeigt die Anteile der Bevölkerung, die in 1998 und 2008 unter bestimmten Kennzeichen von Armut litten. Nicht nur hat der Anteil der Ärmsten zugenommen, der seine Wohnstätte auf ungedeckten Erdböden hat, auch der Anteil jener Bürger, die ohne Wasseranschluss auskommen müssen, stieg. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass der Anteil derjenigen aus dem relativ "guten" Segment B, die in den Armenvierteln (Slums) leben müssen, sich mehr als verdoppelt hat, u. a. weil die Verfügbarkeit von Wohnraum beschränkt ist (siehe dazu auch: Mission failed: Habitat).


Auch eine Erhebung durch Datos, ein privates Forschungsinstitut, zeichnet ein wenig vorteilhaftes Bild der Armutsreduzierung allein zwischen Mai 2009 und November 2008. Die durchschnittliche Kaufkraft des überwiegenden Teils der Bevölkerung ist - berücksichtigt man die Inflation in diesem Zeitraum - real gesunken. Etwas mehr als die Hälfte der Befragten gehörten zu Segment E.
Abbildung 3 a stellt die Veränderung des realen Einkommens für Segmente C bis E dar. Segmente D und E, die einen Anteil von zusammen 81% haben (vgl. Abbildung 3 b), verzeichnen einen deutlichen Rückgang des Monatseinkommens. Segment C geniesst noch einen kleinen realen Zuwachs. Der gewichtete Durchschnitt des Einkommensverlustes für die drei betrachteten Segmente (zusammen 96% der Gesamtmenge) im o. a. Zeitraum betrug ca. 9%. Die meisten verdienen weniger, während wenige mehr verdienen. Eine Untersuchung über die Ungleichverteilung der Einkommen (Gini-Koeffizient ohne Nulleinkommen ) durch Rodríguez belegt ebenfalls diese Tendenz (Verweis wird nachgereicht).

Da wegen der Unklaren Methodik des INE (es findet sich keine nachvollziehbare Dokumentation der Änderungen) möglicherweise die Vergleichbarkeit heutiger Daten mit Referenzpunkten aus der Vergangenheit beeinträchtigt sein könnte, ist das Hinzuziehen zusätzlicher Untersuchungen mit intertemporal gleichbleibenden Methoden notwendig. Nicht nur weisen die zwei angeführten Untersuchungen ein bescheidenes Ergebnis bei der Armutsreduktion aus, es besteht offenbar gerade in den letzten Monaten sogar ein weiterer Rückgang der untersten Einkommen und somit eine Verschärfung der Armut.
Nachdem die Arbeitslosenzahlen seit April wieder leicht ansteigen und mittlerweile weitere Arbeitsplätze wegfallen, während der Staat nur mit großer Mühe die sozialen Ausgaben aufrecht erhält, könnte diese Entwicklung sich in 2009 weiter vertiefen.
Der Mangel an Transparenz bei der Entwicklung und Durchführung sozialer Projekte, das Fehlen von Kontrollen und Aufsicht staatlichen Handelns ist so weit verbreitet und systematisch, dass es offenbar gewollt ist (qui bono?). Die Rekordeinnahmen, die die bolivarische Revolution verwalten konnte, haben miserable messbare Ergebnisse geliefert. Aber wie soll man die Ausgaben ohne Monitoring und laufende Auswertungen (Dokumentation harter Daten verschiedener sozialer "Missionen" nicht verfügbar) effizient verwenden?
Das deutlichste Ergebnis bleibt das Fehlen von Nachhaltigkeit bei der Wahl und Durchführung der Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensumstände der Armen. Sämtliche Programme sind nicht aus sich selbst heraus oder aus stabilen Haushaltsposten tragfähig und tragbar, sondern hängen direkt mit der Entwicklung der Öleinnahmen zusammen. Die Volatilität der Öleinnahmen scheint immer stärker auch die Volatilität der Einkommensverhältnisse der unteren Schichten zu bestimmen (mehr zu diesem Thema in einem zukünftigen Beitrag). Auf welchem Planeten eine Regierung eine solche Sozialpolitik als Erfolg verkaufen kann, bleibt ein Rätsel. Dieser kann es nicht sein...

Montag, 20. Juli 2009

Arbeitgeber Staat

Rafael Ramírez, Minister für Energie und Bergbau und Präsident von PDVSA, des wichtigsten (Staats-)Unternehmens Venezuelas, verweigert den regulären Gewerkschaften die Verhandlungen über neue Tarifverträge. Die Mehrheit der durch PDVSA beschäftigten Arbeiter sind in einer der Gewerkschaften organisiert, die gemeinsam die Federación Unitaria de Trabajadores Petroleros de Venezuela (Futpv), eine Art Dachorganisation, bilden.
Seit einiger Zeit wird immer häufiger und heftiger Protest seitens der Arbeiter von PDVSA und auch anderen Staatsunternehmen in Primärindustrien hörbar. Teilweise sind abgelaufene Tarifverträge seit Monaten und - in einigen Fällen sogar Jahren - nicht neu verhandelt worden, überwiegend, weil gerade der Staat als wichtig(st)er Arbeitgeber die Verhandlungen mit Arbeitnehmervertretern verweigert. Das Ministerium für Arbeit, als denkbare Vermittlungsinstitution, zeigt sich in letzter Zeit sehr bedeckt, während der Staat auf den Aufbau von "alternativen", weniger streitbaren Vertretungsgremien der Arbeiterschaft setzt.

Allein bei PDVSA sind Anfang des Jahres ca. 75.000 Menschen in Lohn und Brot. Diese Zahl sollte sich nach der Anfang Mai erfolgten staatlichen Übernahme von Dienstleistern und Zulieferern des Erdölgiganten in der Region östlich des Maracaibossees stark erhöhen. Eine Aufnahme von ca. 22.000 weiteren Arbeitern in die Lohnliste von PDVSA müsste stattfinden, wenn keine Stellen gestrichen werden (was der Staat bei der Enteignung versicherte). Viele Arbeiter der übernommenen Dienstleister beklagen noch immer das Ausbleiben einer Übernahme und somit auch von Einkommen. Nach einem Monat waren erst 668 dieser Arbeiter in das Staatsunternehmen aufgenommen worden, obwohl der Präsident PDVSAs eine wöchentliche Übernahmequote von 1.000 Arbeitern versprach. Zusätzlich ist anzunehmen, dass die Einstellung der neuen Arbeiter auch maßgeblich nach "ideologischer Eignung" erfolgt (die Tascón-Liste, in der die Namen der Unterzeichner des Volksbegehrens zur Abberufung des Präsidenten in 2004 geführt werden, dient hier als Grundlage). Diese unzureichende Absorbtion von Arbeitskräften schlägt auch auf die wirtschaftliche Situation der gesamten Region durch. Vertreter von Arbeitgeberverbänden erklären, die wirtschaftlichen Aktivitäten der Region seien auf 20% des Niveaus vor der Verstaatlichung gefallen.

Aber auch diejenigen Arbeiter, die Teil der Belegschaft PDVSAs sind, haben in ihrem Arbeitgeber keinen fairen Verhandlungspartner. Herr Ramírez schließt kategorisch jede Verhandlung mit "Feinden der Revolution" aus und meint damit offensichtlich auch die Arbeitervertretung durch Futpv, der größten Arbeiterdachorganisation des Sektors (190 Einzelorganisationen und ca. 50.000 Mitglieder). Mehr noch, er mischt sich aktiv in die Wahlen der Arbeitervertretung ein und droht Arbeitern und Verbänden: "Wer nicht in einem sozialistischen Komittee ist, ist der Verschwörung gegen die Revolution verdächtig". Diese sozialistischen Komittees sind natürlich durch die Regierungspartei organisiert. Er befürwortet klar die Wahl der ihm eher genehmen revolutionären Bewegungen (die seiner eigenen Partei nahe stehen oder ihr zugeordnet sind) und diskreditiert andere zur Wahl stehende Vertreter als "von der Oligarchie begünstigt". Die seinerseits gemachten Vorschläge eines Tarifabkommens beschneiden die Freiheit der gewerkschaftlichen Tätigkeit.
Vergessen wir nicht, dass ein Großteil der Beschäftigten PDVSAs nach dem großen landesweiten Streik (Produktionsstopp) von 2003 bereits einer Säuberung zum Opfer fielen. Heute protestieren nun auch bekennende chavistas, die bei aller Liebe zum Revolutionsführer trotzdem essen und menschenwürdig leben wollen.
Proteste von Arbeitern staatlicher Unternehmen werden immer häufiger strafrechtlich verfolgt, es findet eine Kriminalisierung derjenigen statt, die für eine würdige Verbesserung ihrer Arbeits- und Einkommenssituation kämpfen.

In einem Land, in dem die hohe Inflation und vor Jahren ausgehandelte und mittlerweile abgelaufene Tarifabkommen das reale Lohneinkommen auffressen, ist es alles andere als ein Privileg, für einen Staat zu arbeiten, der unfairer Verhandlungspartner und parteiischer Schiedsrichter in einem ist. Der private Sektor hingegen zeichnet sich im Vergleich eher durch vorbildliche Einhaltung von Tarifverträgen und ihre rechtzeitige Neuverhandlung aus (nicht zuletzt, weil staatliche Instanzen den Privaten viel strenger auf die Finger schauen als sich selbst).
Es ist grotesk, dass eine Regierung, die sich einer arbeiterfreundlichen, sozialistischen politischen Bewegung verschreibt, gerade die große Masse der Arbeiter so lange hinhält und demütigt. Der letzte Tarifvertrag zwischen PDVSA und seiner Belegschaft endete im Januar dieses Jahres. Verschärfend kommt hinzu, dass gerade Herr Ramírez selbst, der kürzlich ausrief:
"Die Oligarchie muss uns fürchten, weil wir die Oligarchie hassen und nicht zulassen, dass sie gegen unseren comandante und unsere revolución vorgeht."
als einer der höchstbezahltesten Angestellten des Staates gilt. Ende 2008 verdiente er mit monatlich mindestens 30.000 US$ ein einem Oligarchen würdiges Gehalt. In der ersten Hälfte von 2009 wurden die Verdienststaffelungen der leitenden staatlichen Angestellten und anderer Staatsbediensteten allerdings angepasst. Laut eigenen Angaben verdient er nun nur noch einen Bruchteil davon.

Seit die Regierung immer mehr Industrien unter staatliche Kontrolle gebracht hat, führt sie sich selbst in der Behandlung ihrer Arbeiter immer häufiger so schlimm auf, wie es selbst die Karikatur eines Laissez-faire Kapitalisten nicht könnte. Wie nah ist die Verwirklichung eines Arbeiterparadieses, wenn gerade der Staat als Vehikel dieser sozialistischen Umformung für die eklatantesten Mißstände in den Arbeits- und Verdienstbedingungen verantwortlich ist? Wie viel Respekt genießt die Arbeiterselbstverwaltung, die nur anerkannt wird, wenn sie durch regierungsabhängige Organe stattfindet? Welcher Grad an institutionellem und sittlichen Verfall ist zu attestieren, wenn die Beschäftigung durch den Staat nur vermeintlich "politisch sauberen" Bürgern offensteht (bzw. Kündigung im umgekehrten Fall) und wenn Streik und Protest nicht als verfassungsmässiges Recht, sondern als Straftat angesehen werden?

Freitag, 10. Juli 2009

Inflación Bolivariana

Venezuela hat sich in den letzte Jahren immer stärker durch eine hohe Inflationsrate von anderen Ländern der Region unterschieden. Allein in 2008 lag die jährliche Inflationsrate in Venezuela mit 30,9% nicht nur bei einem Vielfachen des lateinamerikanischen Durchschnitts, sondern war auf der westlichen Hemisphäre die höchste. Nur in Zimbabwe dürfte es weitaus schlimmer zugehen (dort verdoppelten sich Ende 2008 die Preise täglich).
Gleichzeitig gehen Wirtschaftswachstum und Konsumintensität zurück. Die klassischen Merkmale einer Stagflation. In Venezuela scheint eine persistente Inflation der letzten Dekade die Folge der bolivarischen Wirtschaftspolitik zu sein. Gerade die ärmeren Bürger werden einer Verschlechterung der Lebensumstände strärker ausgesetzt sein, wenn nicht ein baldiger und deutlicher Ölpreisanstieg die Regierung Chávez mit großen Mittelzuflüssen versorgt, um soziale Programme gleichbleibend zu unterhalten. Insofern könnte sich die hohe Inflation als eine weitaus größere Bedrohung für das Regime erweisen als jede denkbare politische Opposition dieser Tage.

Besonders in den letzten Jahren hat die Revolution die Geldmenge stark ausgeweitet. Der etablierte Mechanismus, "Überschussreserven" der Zentralbank an von der Regierung verwaltete Institutionen zu transferieren hat diesen Effekt weiter verstärkt. Aber diese als Überschuss deklarierten Reserven dienen bereits zur Deckung des inländischen Geldvolumens in Bolívares. Die in Dollar durch PDVSA erzielten abführbaren Einnahmen müssen bei der Zentralbank in Bolívares eingetauscht und dann an den Fiksus abgeführt werden. Die Dollarreserven decken also eine zum offiziellen Wechselkurs von 2,15 BsF/US$ getauschte Menge inländischer Währung, die üblicherweise durch Staatsausgaben in den Kreislauf gelangt. Wenn nun vermeintliche überschüssige Dollarreserven erneut an den Staat (üblicherweise über den nationalen Entwicklungsfond, FONDEN) ausgeschüttet werden, dann tauscht dieser nun zum zweiten Mal Bolívares gegen den selben Dollar (der bereits zuvor als Bolívares ausgegeben wurde) und bringt noch mehr einheimische Währung in Umlauf. Eine verständliche Erläuterung dieser fraglichen Prozedur findet sich hier. Devisenreserven, die bereits inländische Währung decken, sind keine Reserven für Notzeiten. Sie sind schon ausgegeben (siehe auch diesen Beitrag).
Abbildung 1 zeigt, wie stark die Geldmenge M2 - auch dank dieses Multiplikationsmechanismus' - im Vergleich zum Dollarreservenbestand gestiegen ist. Dass eine solch starke Geldmengenausweitung nicht mit einem entsprechenden Wirtschaftswachstum einhergeht (um dieses zu alimentieren), ist auch sichtbar (Werte normiert in 1999). Immer mehr Bolívares decken eine relativ langsam wachsende Menge an Gütern und Dienstleistungen, die Preise steigen, die Kaufkraft jedes Bolívar sinkt. Mehr über den Zusammenhang zwischen dem hier beschriebenen Mechanismus und Inflationsentwicklung hier.

Ein exemplarischer weiterer Grund für ein zunehmende Preissteigerungsrate sind die sich durch mangelhafte Devisenzuteilung verteuernden Importe (vgl. ¿Dólares? No hay... und Einseitige Aussenwirtschaft - Teil 2: Importe). Wer keine Dollar für Importzwecke zum offiziellen Kurs erhält, weicht auf den Parallelmarkt aus, wo die Kaufkraftverschlechterung des Bolívar den Erwerb von Dollars stetig verteuert. Um mindestens Kostendeckung zu erreichen, steigen also die Endpreise von Importware, was den Kreislauf weiter antreibt.
Die Wirtschaftspolitik trägt nicht nur direkt zur Inflation bei, sondern setzt auch die inländische Produktion unter Druck: Die Mittel, die nicht beispielsweise über FONDEN durch die Regierung für Ausgaben im Inland verwendet werden (was im Widerspruch zu FONDENs Satzung steht), verwendet der staatliche Sektor direkt in Form von Dollar für große Käufe im Ausland. Das dadurch große Angebot an billigeren Basisgütern (auch durch bilaterale Abkommen, "Öl gegen Bohnen") macht inländische Produzenten unrentabel.

Gleichzeitig geht das Wirtschaftswachstum zurück, während die Arbeitslosenquote im Mai erstmals leicht zunimmt und auch die Beschäftigungsquote auf dem sog. "informellen Sektor" (oft keine vollwertige Erwerbsgrundlage) wieder ansteigt. Ungünstige Wirtschaftsbedingungen führen allerdings oft mit Verzögerung zu höheren Arbeitslosenzahlen (Für 2009 evtl. 10%, Schätzung des ehemaligen Zentralbankdirektors).
Für das laufende und das kommende Jahr wird das Inlandsprodukt voraussichtlich sogar schrumpfen. Zusammen mit der hohen Inflation kennzeichnet dies eine mögliche Stagflation. Problematisch hierbei ist, dass die Wirtschaftspolitik aufgrund dieser zwei Probleme "nichts richtig machen kann": Mehr Staatsausgaben durch frisch gedrucktes Geld stützen das Wirtschaftswachstum, heizen aber die Inflation an und umgekehrt. Die Regierung hat in den letzten Monaten den Haushalt (also reguläre Ausgaben) gekürzt und Kredite im Ausland aufgenommen, um Staatsausgaben zu ermöglichen.
In Abbildung 2 ist die sich weiter öffnende Schere zwischen Inflation und Wirtschaftswachstum ersichtlich. Die Inflationsschätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) für 2009 und 2010 sind recht pessimistisch. Das Inflationsziel von 12% hat das Finanzministerium bereits aufgegeben, erwartet werden ca. 28% in 2009. Im Rahmen der volkswirtschaftlichen Kontraktion ist eine leichte Abnahme der Inflation im Vergleich zu 2008 denkbar.

Weiss man um die hohe Inflation, ist es etwas verwunderlich, wie die Regierungsmedien die letzte Anhebung des gesetzlichen Mindestlohnes als so große Errungenschaft präsentieren können. VTV erklärt, dass Venezolaner den höchsten Mindestlohn Lateinamerikas erhielten und belegt dies anhand des nominalen Mindestlohns. Dies mag in Volkswirtschaften mit geringem Preisniveau-Ansstieg vielleicht noch akzeptabel sein, im Falle Venezuelas allerdings ist es höchst unseriös. Die für 2009 vorgesehenen Anhebungen des nominalen Mindestlohnes um je 10% im Mai und September bedeutet lediglich eine versuchte Anpassung des realen, von Inflationseffekten bereinigten, Mindestlohnes an den steigenden Preisindex. Dank der hohen Inflation könnte der Real(mindest)lohn trotz Anhebung sogar sinken. Zusätzlich legt der Regierungssender für die Umrechnung des Lohnes in US$ den offiziellen fixen Wechselkurs zugrunde, der ja gerade den Kaufkraftverlust des Bolívars kaschiert. Zum echten Wechselkurs läge der preisbereinigte Mindestlohn sehr weit unter dem angegebenen Wert. Der gestzliche Mindestlohn, bzw. festgelegte Vielfache davon, ist auch Bemessungsgrundlage für Gehälter der öffentlichen Verwaltung und anderer staatlich Beschäftigten.
Diese notwenige Anhebung des Mindestlohnes kann wiederum selbst über die höheren Lohnkosten inflationäre Effekte verstärken.

Der Preisanstieg hat mittlerweile auch die Erhöhung der Preise in den staatlichen Mercal- und Pdval-Läden herbeigeführt und die Anhebung der regulierten Preise erzwungen. Die dort geltenden niedrigen Festpreise scheinen sogar für diese staatliche geführte, soziale Unternehmung "unrentabel" (?). Die sinkenden Staatseinnahmen haben auch zu einer Kürzung der finanziellen Ausstattung der Sozialmärkte geführt (einige wurden geschlossen). Immer wieder sah man auch in den staatlichen Läden leerer werdene Regale und ein schrumpfendes Sortiment - klares Anzeichen für Inflation bei festgelegten Höchstpreisen (und möglicherweise auch für Korruption, aber das ist ein anderes Thema). Ein Konsumrückgang dürfte wieder für weniger leere Regale sorgen.
Es ist ein Rückgang des Konsums insgesamt zu beobachten und eine Umstrukturierung des Nahrungsmittelkorbes hin zu billigeren Gütern, weniger Proteine, mehr Mehl und Reis. Die Konsumausgaben werden zunehmend von nicht-essentiellen zu lebensnotwenigen Gütern umgeschichtet. Offenbar sinkt in dieser Hinsicht die Lebensqualität spürbar.

Hieraus können wir ableiten, dass die Wirtschaftspolitik der Revolution nicht nur völlig auf hohe Ölpreise angewiesen ist, sondern auch, dass sie beim Ausbleiben der Petrodollars die ärmeren Schichten stärker beeinträchtigt. Sie können sich nicht nur keine Zusatzausgaben mehr leisten, sondern müssen schon beim Lebensnotwenigen durch billigere oder minderwertige Güter substituieren. Im schlimmsten Fall können sie mit ihrem Einkommen nicht einmal mehr den billigsten Nahrungsmittelkorb erwerben. Die Ausweitung der Sicherung des Überlebens durch Lebensmittelkoupons, die selbst schon ein Indiz für Mangelwirtschaft sind, dürfte noch weiter zunehmen. Die Aufrechterhaltung der sozialen Programme scheint sehr schwierig zu sein. Die Regierung versucht in den letzten Monaten an allen Stellen Geld zusammenzukratzen, obwohl der Präsident noch zu Jahresbeginn klar versicherte, dass die internationale Wirtschaftskrise Venezuela dank der vorhandenen Reserven und Rücklagen nur minimal treffen würde.
Eine für das Regime ungünstige Konsequenz dieser Verschlechterung der Lebensumstände dürfte in einer noch weiter wachsenden Unzufriedenheit der ärmeren Schichten entstehen. Während "die Massen" bislang - dank betäubendem Petrodollartropf - die Autokratisierung der Republik unter Hugo Chávez begrüßen mögen und den Zerfall der Institutionen und der Verfassungsmäßigkeit vielleicht tolerieren, so werden sie sicherlich nicht hinnehmen können, dass die durch die Revolution erhoffte Beseitigung des Elends nicht stattfindet. Schon Ende der achtziger Jahre waren plötzliche Preiserhöhungen bei sich verschlechternden Lebensbedingungen Auslöser für Aufstände und Proteste. Als Messias gerade dieser Prostestbewegung sieht sich Chávez. Was die bedauernswerte, völlig auf die "Ölwette" aufgebaute Wirtschaftspolitik mit ihren Folgen an der Glaubwürdigkeit und Beliebtheit des comandante zu beschädigen vermögen, hat die politische Opposition der letzten Jahre nicht vermocht.