Von einer Bananenrepublik ohne Bananen und mit viel Erdöl

Venezuela

Sonntag, 19. April 2009

"El Sistema", der Kinofilm

Ausnahmsweise ein weniger bedrückender Beitrag:

Am 16. April 2009 ist der Dokumentarfilm "El Sistema" in den deutschen Kinos angelaufen. Die Koproduktion von EuroArts mit ARTE France, NHK und SF zeigt das in Lateinamerika (möglicherweise weltweit?) einzigartige Musikbildungsprogramm Venezuelas, das Maestro Abreu vor 30 Jahren ins Leben gerufen hat, um auf seine Weise den armen Kindern eine Perspektive zu geben.
Das Jugendsymphonieorchester "Simón Bolívar" ist auf der ganzen Welt hoch angesehen, ebenso sein Dirigent, Gustavo Dudamel.

Hier der kurze Beitrag in der "Zeit".

Donnerstag, 16. April 2009

Venezuela, Deine Gaue

Die Ereignisse der letzten Tage spiegeln die Missachtung der Verfassung durch Chávez und seine Gefolgschaft wider. Zunehmend verliert Geist und Wortlaut dieses obersten aller Gesetze für die von der Regierung abhängigen Staatsorgane an Bedeutung. Sämtliches staatliches Handeln findet sein oberstes Gesetz an anderer Stelle: Chávez' Wort.
Der in einem vorangegangenen Beitrag beschriebene Bruch mit dem Verfassungsmässigen hat sich verschlimmert. Trotz unmissverständlicher Vorgaben des Verfassungstextes, wird dieser schon bei der Verabschiedung von Gesetzen durch die Asamblea Nacional (AN) ignoriert.

In dem o. g. Beitrag ging es, neben anderen Dingen, auch um die Entmachtung der Bezirks- und Landesregierungen durch (verfassungswidrige) Übertragung von Bundesstaatskompetenzen an die Zentralregierung. Besonders skandalös war zu diesem Zeitpunkt das von der AN vorgelegte Gesetz zur Schaffung einer vom Präsidenten zu ernennenden Gouverneursstelle für den Hauptstadtdistrikt. Caracas unterseht seit Inkrafttreten der Verfassung von 1999 einem regelmässig gewählten Oberbürgermeister als oberste Exekutivinstanz.
Das unrühmliche Gesetz ist mittlweile in Kraft und umgehend hat der Präsident die Ermächtigung verwendet, um eine treue Chavistin, Jacqueline Faría, zur Gouverneurin des Hauptstadtdistrikts zu ernennen ("Jefa de Gobierno" ist der offzielle Titel, das Regime vermeidet aus Verschleierungsgründen das Wort "Gouverneur"). Dieser repräsentiert zwar nicht die gesamte zum Oberbürgermeisteramt gehörenden Metropolregion Caracas, sondern lediglich einen der fünf Bezirke. Allerdings spricht das verfassungswidrige Gesetz der neuen Gouverneursfigur als Regierungssitz und Budget das zu, was bislang Sitz und Haushalt der (derzeit oppositionellen) gewählten Stadtregierung war. Der im November 2008 von der überwiegenden Mehrheit der caraqueños zum Oberbürgermeister gewählte Antonio Ledezma steht nun ohne Büro, Regierungssitz und Budget da. Knock out.

Das neue Gesetz sieht ebenfalls die Schaffung von weiteren durch den Präsidenten zu besetzende Posten für alle weiteren Teile des Landes vor. Die Entmachtung Ledezmas als Oberbürgermeister von Caracas statuiert nicht nur ein Exempel an einem aussichtsreichen Widersacher, sondern ist gleichzeitig Präzedenzfall (Sündenfall) für eine noch beklemmendere Vision: Der Präsident kann nun - im völligen Widerspuch zum föderal definierten Charakter der Republik - "seine" Gesandten über die verfassungsmässigen und gewählten Regierungen der Bundesstaaten einsetzen.

Kommt das jemandem bekannt vor? Genau das selbe Konzept wurde während des Dritten Reichs umgesetzt. Dort hießen diese von Hitler eingesetzten Verantwortlichen "Gauleiter" und ihre Machtbezirke "Gaue". Schon damals dienten diese aus den Reihen der NSDAP Verlesenen als nicht verfassungsmäßige Überbrückung der gewählten Organe.
In dieser Betrachtung folge ich "Venezuela News and Views" und Teodoro Petkoff von TalCual. Selbstverständlich bin ich mir bewusst, dass Vergleiche der Gegenwart mit dem Dritten Reich grundsätzlich schal sind und man sich eigentlich schwer tut den Superlativ des Nationalsozialismus als vergleichbar zu erachten, aber: Hört es sich an wie ein Pferd und sieht es aus wie ein Pferd, dann ist es sicherlich ein Pferd.

Sollte ein oppositioneller Kandidat zukünftig durch die Mehrheit der Wähler die Verantwortung für einen Bezirk oder ein Bundesland erhalten, muss er befürchten, dass ihm ein Vorgesetzer durch die Zentralregierung zugeteilt wird, der dem gewählten Amt lediglich symbolischen Wert lässt ("Aber ja! In Venezuela darf jeder wählen!"). Caracas Chronicle's Artikel zieht recht passende Vergleiche der nun in Venezuela nur noch auf dem Papier vorhandenen Verfassung und denen anderer totalitärer Staaten, deren Wortlaut nichts mit der politischen Realität gemein hat und dadurch tot und leer bleibt.
Es ist ein finsterer Aspekt dieser Bananenrepublik, dass Wählerstimmen immer dann gut sind, wenn sie Chávez die Mehrheit verschaffen und ansonsten lästig und nicht anzuerkennen.

Mittwoch, 15. April 2009

Mission failed: Habitat

Die Verfügbarkeit von Wohnraum war, ist und bleibt für ein Entwicklungsland wie Venezuela mit seinen hohen Anteilen armer und sehr armer Bevölkerungsschichten ein wichtiges Thema. Da die Mehrheit der Bürger nicht über die Sicherheiten und das Einkommen verfügt, um das eigene Heim nach mitteleuropäischem Muster über einen privaten Bausparvertrag oder ähnliche Instrumente zu finanzieren, kommt dem Staat eine zentrale Rolle bei der Schaffung von (menschenwürdigem) Wohnraum zu.
Artikel 82 der Verfassung Venezuelas dokumentiert die Bedeutung dieser staatlichen Rolle. So ist dieser auch mindestens verpflichtet, die Schaffung von Wohnraum für Familien niedriger Einkommensklassen über geeignete Programme und Baukredite zu gewährleisten.
Präsident Chávez hat seit seiner Machtübernahme 1999 die Umformung der Republik hin zu einem "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" vorangetrieben. Dass dieser Sozialismus mit dem 21. wenig, mit gescheiterten sogenannten sozialistischen Modellen des 20. Jahrhunderts erschreckend viel zu tun hat, wird in diesem Blog an verschiedenen Stellen sicherlich wiederholt zu bemerken sein.
Man könnte meinen, dass für einen so "frischen" Sozialismus das Ziel, den Massen angemessenen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, ziemlich weit oben auf der Agenda stehen müsste. Die als Medien- und Propaganda-Ereignisse im Regierungsfernsehen übertragenen Grundsteinlegungen und Fertigstellungsfeiern im Beisein des Präsidenten vermitteln leicht einen solchen Eindruck. Inwiefern die Zunahme an übertragenen Grundsteinlegungen mit der zeitlichen Nähe zu anstehende Wahlen korreliert, ist sicher ein interessantes Untersuchungsobjekt. Die Schaffung von Wohnraum ist auch unter Chávez zunächst ein Posten im Haushalt des korrespondierenden Ministerio del Poder Popular para la Vivienda y Habitat (MVH) und zusätzlich auch ein Ziel einer der vielen misiones: Misión Habitat.

Die genauere Überprüfung der Realität offenbart eine durch die Regierung und ihre Sender generierte grosse Menge heisser Luft in der Angelegenheit. Oft genug waren in der jüngeren Vergangenheit in nicht staatlichen Medien schon Berichte über zuvor gross zelebrierte Wohnraumprojekte, die nun als unfertige Bauruine nutzlos herumstehen, zu finden. Solche Projekte zur Errichtung ganzer Wohnanlagen sind oft so ausgelegt, dass der Staat (ggf. über seine Unternehmen) eine Vielzahl kleiner Kooperativen oder einzelne Handwerker mit dem Bau beauftragt. Endet ein Bau nicht mit der Fertigstellung, sondern mit der Aussetzung der Bautätigkeit an dem unfertigen Gebäude, dann deshalb, weil die vielen einzelnen Vertragspartner des Staates spätestens nach den frühen Bauphasen kein Geld mehr erhalten. Da sich diese Kooperativen und Handwerker völlig einem solchen Projekt widmen und nicht ihr Tätigkeitsportfolio diversifizieren können, hängt von dem Mittelzufluss allzu oft die Existenz ganzer Familien ab.
Die Cámera Venezolana de la Construcción (CVC), der Verband der Bauindustrie, zeigt in einer Studie (von der nicht staatlichen Presse u. a. hier abgedeckt), dass in der aktuellen Dekade unter der derzeitigen Regierung das Wohnungsbauvolumen sogar eines der niedrigsten der letzten 50 Jahre darstellt.
Weniger als Chávez wurde nur in der Dekade nach 1959 pro Jahr gebaut. Damals wurde Rómulo Betancourt erstmals seit dem Ende der gerade beendeten Diktatur von Marcos Pérez Jiménez demokratisch zum Präsidenten gewählt. Wird das durchschnittliche jährliche Neubauvolumen jedoch auf die jeweilige Bevölkerungszahl der Dekaden umgelegt, schneidet die jetzige Regierung als schlechteste ab. Siehe dazu Grafik weiter unten.

CVC schätzt in der Studie das angehäufte Defizit an Wohneinheiten auf 1,85 Millionen. Diese Schätzung wird sogar in der Selbstbeschreibung der von der Regierung 2005 initiierten Misión Habitat bestätigt. Diese beruft sich auf Angaben des Instituto Nacional de Estadistica (INE), das Statistikamt, welches sogar einen erweiterten Neubaubedarf von bis zu 2,5 Mio. Einheiten für möglich hält. Hieran lässt sich erkennen, dass die der Regierung ergebenen zuständigen Organe offenbar niemals eine Studie oder einfach einen Soll-Ist-Vergleich vorgenommen haben, sonst wären diese Zahlen, die gleichsam als Beleg der Unzulänglichkeit der Baupolitik der letzten zehn Jahre dienen, sicher nicht so leicht erhätlich gewesen...

(Bild anklicken zum Vergrössern) Das Diagramm oben links zeigt die durchschnittliche jährliche Anzahl an Neubauten je Dekade ab 1959 (je zwei Präsidentenamszeiten, Chávez durchgehend ab 1999). Oben rechts die durchschnittliche Zahl an Neubauten pro 1000 Einwohner je Dekade. Die untere Darstellung gibt den jährlichen Neubaubedarf der nächsten 20 Jahre an, wobei von einem Defizit von ca. 1,8 Mio. Wohneinheiten ausgegangen wird. Der jährliche Neubaubedarf teilt sich auf in einen Teil, der regelmässig durch Bevölkerungswachstum und Erhaltungseffekte bedingt ist und einen, der zur Aufholung des Defizits dienen muss. "Fortsetzung Realität" zeigt als Referenz die jährliche Neubaurate unter Fortsetzung der bisherigen Baupolitik der Regierung.

Die Ursachen für diese schwache Bautätigkeit ist sicherlich in der nicht langfristig ausgelegten Politik des Präsidenten zu finden. Wer Neubauten vornehmlich als Werbeveranstaltung vor anstehenden Wahlen unterstützt, muss unweigerlich auf lange Sicht in diesem Bereich underperformen. Spuren einer nachhaltigen Wohnungsbau(förderungs-)politik sind eigentlich, ausser in den Absichtserklärungen des zuständigen Ministeriums, nicht zu finden. Hierzu gehört nicht nur die konstante Förderung von Bautätigkeit durch staatliche Kredite oder Aufträge, sondern z. B. auch die angemessene Freigabe und Erschliessung von Bauland.

Die Misión Habitat, zusammen mit dem zuständigen Ministerium, beabsichtigt laut den selbst gesteckten Zielen, das riesige Wohnraumdefizit bis 2021 zu beseitigen. Dies erscheint mit Blick auf die magere Leistung des Regimes in den letzten zehn Jahren nahezu unmöglich.
CVC schätzt den jährlichen Wohnungsbaubedarf auf 200.000 Einheiten, wenn das Defizit in 20 Jahren abgebaut sein soll und gleichzeitig dem natürlichen Wachstum des Wohnraumbedarfs Rechnung getragen werden soll. Dies entspräche geschätzen 7,5 Wohneinheiten pro 1000 Einwohner pro Jahr für 20 Jahre!
Die derzeitige Regierung müsste also ihre mickrigen 1,56 Einheiten pro 1000 Einwohner im Jahr fast verfünffachen. Dies ist selbst wesentlich mehr als die im Vergleich mit 5,3 Einh./1000Einw. recht starke Caldera-Pérez-Zeit. Man bedenke, dass die Regierung sich die Erfüllung dieses Ziels ja bis 2021 vorgenommen hat. Eine Zielerreichung erscheint ja bereits im 20-Jahre-Horizont utopisch... Jetzt, wo die stark reduzierten Erdöleinnahmen zu grösseren Einsparungen und Neuverschuldung führen, ist eine großzügige Stimulierung des Wohnungsbaus nicht realistisch anzunehmen.

Die Bauindustrie empfiehlt zur Überwindung dieser sich anbahnenden Krise u. a. die Schaffung und Wahrung einer gewissen Rechtssicherheit (riskante, weil bzgl. Bezahlung und Durchführung ungewisse staatliche Projekte schrecken eher ab. Zur schwindenden Rechtssicherheit u. a. mehr hier), die Formulierung einer langfristigen und nachhaltigen Baupolitik, die Beteiligung aller Sektoren (nicht nur der dem Regime genehmen oder eigenen Unternehmen) und das Angebot an günstigen Finanzierungsmöglichkeiten zum Bau und Erwerb von Wohnraum. Ausserdem muss das bisherige Gesetz zur Förderung von Wohnungsbaukrediten angepasst werden. Dieses sieht einen Rückzahlungsbeitrag von ca. 20% des monatlichen Familieneinkommens vor. Da die Haushaltseinkommen aber in Venezuela nur sehr langsam steigen, die Inflation hingegen im Turbogang voranschreitet, wirkt die Rückzahlung erdrückend. Eine an den realen Einkommen bemessene Rückzahlung wäre angemessener.

Das können wir getrost alles vergessen. Meiner Einschätzung nach, wird die deutliche Verschlechterung der Wohnsituation in den kommenden Jahren zu beobachten sein. Selbst eine Verdopplung der Bautätigkeit bliebe noch weit hinter dem notwendigen Volumen zurück.
Der Posten für Wohnungsbau und seine Förderung muss laut CVC von derzeit 1,5% des Staatshaushalts auf mindestens 5% angehoben werden - zusätzlich zu den oben angeführten Verbesserungen der Rahmenbedingungen.
Der Anblick der barrios und ranchos, den Wellblechsiedlungen der Armen am Rand der Großstädte, die bei den starken Regenfällen nicht selten die Hänge runtergeschwemmt werden, dabei Hauptstrassen verstopfen und Menschen töten, wird weiterhin fester Bestandteil der urbanen Landschaft bleiben.
Die erdölbasierten Staatseinnahmen in den letzten zehn Jahren unter Chávez waren die höchsten aller Zeiten. Noch nie hat einer Regierung eine solche Fülle an Geld zur Verfügung gestanden. Offenbar kann man trotz Rekordeinnahmen erfolgreich die nationalen Grundbedürfnisse völlig vernachlässigen.
Sind jene ohne Dach einmal auf der Strasse, ist zu erwarten, dass sie dort den naheliegendsten Weg zur Beseitung des ineffizienten Filz-Regimes finden werden. Und dieser führt ganz bestimmt nicht über Wahlurnen, sondern schmeckt vielmehr nach Blut und Tränengas.